Verkehrte Welt. (EH/SAN bis RD)

Notfallszenarien für Ersthelfer bis Rettungsdienstmitarbeiter.

Foren-Übersicht Erste Hilfe, Rettung und Medizin Fallbeispiele

04.11.2015, 17:08
"Na wenn du meinst. Ich kann ja immernoch nach Hause."

Dann gibt es kein ASS. Fenster zu findet Frau Betzel toll, die Decke allerdings nicht so arg.
Wie geht es weiter?

Die Leitstelle wartet auch noch auf Sebi ...
04.11.2015, 17:12
Kein ASS! Der Rettungsdienst wird bei einem ACS hochdosiertes ASS (500mg) geben, da müssen wir mit 100mg oder so meiner Meinung nach nicht anfangen und sie nimmt es ja bereits ein. Außerdem ist mir das zu unsicher, ich gebe keine Medikamente ohne einen Arzt.

Um jetzt mal ein wenig Struktur reinzubringen.
A - die Patientin redet mit uns, die Atemwege scheinen frei zu sein
B - haben wir ein Problem. Sie klagt über lageabhängige Dyspnoe die im Sitzen besser wird. SpO2 liegt bei 94%. Ich hätte die Patienten gerne auskultiert (ja, steinigt mich!). Höre ich eventuell irgendwelche Rasselgeräusche oder sonstige Atemgeräusche? Ansonsten liegt die Atemfrequenz bei 20 1/min mit ausreichendem Atemzugvolumen und normalem Atemrhythmus. Frau Betzer bekommt erstmal 4 Liter Sauerstoff über die Nasenbrille. Oberkörperhochlagerung!
C - haben wir ebenfalls ein Problem. Der Radialispuls ist arhythmisch, gut tastbar aber tachykard. Als Vorerkrankung lässt sich ein Vorhofflimmern in Erfahrung bringen. Sonst wirklich keine weiteren Vorerkrankungen? Risikofaktoren? Der Blutdruck liegt bei 150/90 mmHg, den dürfen wir dann gerne noch einmal messen. ReCap? Den Defi bitte einmal griffbereit halten...
D - BZ liegt bei 183 mg/dl. Gern machen wir einmal den Kreuzgriff. Pupillencheck.
E - wann fingen die Symptome an? Wärmeerhalt!

ACS bedeutet akutes Koronarsyndrom und umfasst in der Präklinik die Begrifflichkeiten STEMI-Herzinfarkt, Non-STEMI Herzinfarkt und eine instabile Angina Pectoris und wird gestellt, sobald die Herzinfarkt-typische Symptomatik auftritt.
Zuletzt geändert von SebiG am 04.11.2015, 17:16, insgesamt 1-mal geändert.
04.11.2015, 17:16
Die Heizung machen wir auch noch einmal an. Nachdem Sebi den Notruf abgesetzt hat warten wir unter Monitoring der VP und des allgemeinen Zustandes auf den Rettungsdienst.

@ Sebi: Sauerstoff haben wir nicht, fällt daher raus.
04.11.2015, 17:19
Okay.

Wo kultierst du denn aus?
Sauerstoff läuft nicht, weil nicht da. Die Dame sitzt, reicht dir das als Lagerung? Oder soll sie woandershin?

"Ach, mir fällt ein, ich hatte auch mal Bluthochdruck. Das ist jetzt aber auch nicht mehr." Der Blutdruck liegt immernoch bei 150/90. Puls tastbar bei 110.
ReCap so um die 2 Sekunden.

Kreuzgriff und Pupillen soweit beurteilbar okay.

"Das fing mit einem Mal an, als ich aufgestanden bin!"
Heizung an findet die Dame auch gut.

Und sonst so?
04.11.2015, 17:28
Auskultation in etwa auf dem 3. ICR rechts und links vom Sternum und basal beidseits so weit unten und außen wie möglich. (ca. überm Rippenbogen ca. auf der vorderen Axillarlinie)... Ich hoffe das ist verständlich :D

Ehrlich gesagt würde ich sie gerne aufm Boden oberkörperhochgelagert sehen...

Vision, was fällt dir noch so ein?
Zuletzt geändert von SebiG am 04.11.2015, 17:36, insgesamt 1-mal geändert.
04.11.2015, 17:35
Prinzipiell natürlich 30° Oberkörper-Hochlagerung, da Frau Betzel sich allerdings in aktueller Lage sitzend einigermaßen wohlfühlt und momentan keine starken Schmerzen/Atemnot hat, würde ich sie erst einmal auf dem Stuhl belassen. Ich lasse mich aber gerne eines besseren belehren.
Wir öffnen zur Atemerleichterung noch einmal beengte Kleidung falls vorhanden. Ansonsten schicken wir noch einen der Lehrer raus zum Einweisen der Rettungskräfte.
04.11.2015, 18:15
Okay. An diesen Punkten ist keine sichere Auskultation möglich, du hörst ein Atemgeräusch, am ehesten vesikulär, aber unsicher.

Die Dame bleibt auf dem Stuhl sitzen.

Die andere Lehrerin geht natürlich bereitwillig zum Einweisen, kurz darauf:
Der Rettungsdienst kommt herein und wünscht sich eine Übergabe.
04.11.2015, 19:13
"Das ist Frau Betzel, über 70 Jahre alt. Frau Betzel klagt über einen drückenden thorakalen Schmerz in Höhe des Sternums und über Dyspnoe. Sie war bei Eintreffen orientiert und ansprechbar. Vorhofflimmern und Hypertonie sind bekannt. Frau Betzel nimmt täglich Aspirin 100, Marcumar und Beloc. Sie ist allergisch auf Metamizol."
Ich übergebe dann noch einen Zettel mit den Vitalparametern.
05.11.2015, 10:22
Dann schauen wir mal, ob sich jemand für den RD finden lässt ...
05.11.2015, 16:52
Kein Rettungsdienst.

Vielen Dank für eure Teilnahme, dann beende ich das Fallbeispiel hier. Ich würde mir von euch eure Arbeitsdiagnose, eine kurze Selbsteinschätzung und Verbesserungsvorschläge wünschen.

Dann erzähle ich ein wenig.
05.11.2015, 17:52
Erst einmal vielen Dank für das Fallbeispiel. Es hat einmal wieder gezeigt, dass regelmäßiges Training im Bereich Rettungsdienst unverzichtbar ist. Zwischen meiner aktiven Zeit im SSD und heute liegen 6 Jahre, da merkt man schnell, dass viel Wissen verloren gegangen ist, das ich jetzt mühselig wieder aufarbeiten darf ;)

Zum Fall:
Meine Arbeitsdiagnose war akutes Koronarsyndrom, welches sich durch ein drückendes Gefühl im Thorax und Atemnot geäußert hat. Der Blutdruck war für die Symptomatik unüblich leicht erhöht, was ich mir durch die bekannte Hypertonie sowie den den Umständen entsprechend einigermaßen fitten Zustand von Frau Betzel zu erklären versucht habe. Der hohe Blutzucker trotz der langen Zeit ohne Nahrungsaufnahme haben mich zunächst stutzig gemacht, der Wert war meines Erachtens aber erst einmal nicht kritisch.

Ich denke, ich habe grundsätzlich die richtigen Fragen gestellt. Leider ließ das strukturelle Vorgehen noch etwas zu wünschen übrig. Zukünftig sollte ich mehr auf die bekannten Schemata und Algorithmen setzen, die ich allerdings derzeit nicht mehr 100%ig verinnerlicht habe. Aus dem gleichen Grund habe ich auch die Anamnese vergessen, an die Sebi dann glücklicherweise noch gedacht hat.
Ansonsten denke ich, die Aktionen waren soweit in Ordnung. Mich würde mal interessieren, ob es angemessen war, die Patientin auf dem Stuhl sitzen zu lassen oder ob generell eine Oberkörperhochlagerung auf dem Boden indiziert ist.
Meiner Meinung nach wäre auch das Anbieten von ASS - falls wir dabei geblieben wären - in Ordnung gewesen. Ich hätte mich allerdings natürlich vorher nach einer ASS-Allergie erkundigen müssen. Ich habe das ganze im Nachhinein mal recherchiert und werde sogar von der ERC-Guideline 2015 bestätigt:

Large randomised controlled trials indicate decreased mortality when ASA (75–325 mg) is given to hospitalised patients with ACS independent of the reperfusion or revascularisation strat-egy. A few studies have suggested reduced mortality if ASA isgiven earlier. Therefore, give an oral loading dose of ASA(150 to 300 mg of a non-enteric coated formulation) or 150 mg of an IV preparation as soon as possible to all patients with suspected ACS unless the patient has a known true allergy to ASA or has active bleeding. ASA may be given by the first healthcare provider, bystander or by dispatcher assistance according to local protocols.


Andererseits geht man natürlich kein Risiko ein, wenn man auf das Anbieten einer ASS-Tablette verzichtet. Sauerstoff wäre übrigens eigentlich nur wegen der Dyspnoe indiziert gewesen:
As soon as the arte-rial blood oxygen saturation can be measured reliably, titrate the inspired oxygen concentration to achieve arterial blood oxygen saturation in the range of 94–98%, or 88–92% in chronic obstructivepulmonary disease

Wobei hier die Voraussetzung, dass der SpO2-Gehalt zuverlässig gemessen werden kann nicht zutrifft.

Ich freue mich auf euer Feedback!
vision
05.11.2015, 18:48
Großteils muss ich vision zustimmen, die Struktur hat anfangs gefehlt, kam dann aber mehr oder weniger noch in das Fallbeispiel hinein. Ich persönlich bin ein Fan von schemenstrukturiertem Arbeiten wie dem ABCDE-Schema/SAMPLE/OPQRST/wie sie alle heißen...

Zu den Kritikpunkten:
- der Notruf... okay :oops:
- Auskultation durch San/RDH - ja, die Auskultationspunkte waren dumm beschrieben, aber ich denke, zumindest unter kontrollierten Bedingungen und eventuell unter Aufsicht spricht nichts dagegen, den Patienten abzuhören. Allein schon aus Übungszwecken.
- Patienten, bei denen ich ein "mulmiges" Gefühl habe, lagere ich gerne bodennah. Die Gründe dürften bekannt sein. :D

Was hatte die Patientin?
Ein ACS ist möglich, auch eine eventuelle Herzrhythmusstörung (mein 1. Gedanke), die man aber ohne EKG nicht 100% verifiziert bekommt. Ansonsten habe ich in dem FB irgendwo eine lageabhängige Dyspnoe rausinterpretiert, die evtl. bei einer dekompensierten Herzinsuffizienz (inkl. Lungenödem) vorkommt. Deshalb auch die Auskultation nach evtl. vorhandenen RGs. Auf das Pulsoxymeter war ja nicht so viel Verlass.

Ansonsten... ich persönlich bin einfach kein Fan von "ASA by BLS" - die 5min warten auf den Rettungsdienst wären meiner Meinung verkraftbar ohne Thrombozytenaggregationshemmung. Und was wäre, wenn der Patient doch eine Aortendissektion hat und man das als ACS fehlinterpretiert (Okay, seltenes ist selten :pardon: ) ... und so weiter :D
05.11.2015, 19:35
1. Schönes Fallbeispiel aus einem Themenkreis, der im SSD selten ist - allerdings sowohl in der Schule (Lehrer, Eltern, Passanten,....) wie auch im wahren Leben vorkommt. Für den Bereich RD oder das Krankenhaus ein Klassiker.

2. Sprachlich auf hohem Niveau, und bezüglich der Versorgung auch durchaus okay.

3. Diese Patient scheint eine Problematik zu haben, die aktuell nicht hochakut erscheint, aber einer Abklärung bedarf. Seitens des Rettungsdienstes würde hoffentlich ein EKG geschrieben und -sofern sie weiterhin stabil bleibt - ein Transport in die nächste "Innere" angestrebt werden.

4. Ich würde die Patientin auf dem Stuhl sitzen lassen, hin und wieder die Vitalparameter kontrollieren und ansonsten nett unterhalten. Auf den Boden würde ich sie in diesem Zustand nicht legen - das ist auch für die Patienten uncool.

5. Ohne weiterführende Diagnostik ist die Diagnose ein Ratespiel. Ich würde die Patientin vor Ort noch konkreter nach der Symptomatik befragen, vor allem wie denn diese "plötzliche" Zustandsveränderung aufgetreten ist.

6. Im Hinterkopf würde ich die Diagnose ACS behalten und in der Klinik auch entsprechende Laborparameter in diese Richtung mit untersuchen, aktuell denke ich jedoch eher, dass sie entweder ein rhythmologisches Problem (TAA bei VHF?) hat. Wenn das "plötzlich" wirklich "plötzlich" beim Aufstehen war würde ich eine Lungenembolie mit in den Raum werfen und ggf. mal in Richtung Thrombose etc weiterforschen.

An sich ist in dieser Tüte vieles drin, und man wird sich ohne weitere Diagnostik wohl kaum auf etwas festlegen.

ASS würde ich dieser Patientin primär aus mehreren Gründen nicht geben:
- Der SSD gibt keine Medikamente "auf gut Glück", weil das beim Herzinfarkt gut sein könnte. Dafür fehlen hier die Indizien, und zum geplanten Zeitpunkt fehlten auch noch wichtige weitere Fragen.
- Weiterhin scheint die Patientin in der Dauermedikation mit ASS abgedeckt zu sein. Wenn sie den Anschein erweckt diesbezüglich regelmäßig ihre Medikamente einzunehmen wäre ich zurückhaltend. Viel eher würde ich nochmal gründlich nachfragen, ob das die komplette Dauermedikation war, und nicht ggf. etwas vergessen wurde.

Spannend wäre, wie das beim ersten Mal war, wie es im KH behoben wurde, und ob es seitdem nochmals aufgetreten war.
06.11.2015, 11:57
Vielen Dank, auch für eure Rückmeldungen.
Insgesamt habt ihr die für mich wichtigsten Punkte schon angesprochen.

Auch mir fehlte so generell eine Struktur in der Abarbeitung, auch wenn letztendlich eigentlich alles notwendige gemacht wurde. Die Anamnese kam mir persönlich viel zu spät und hätte, wie schon von LRF erwähnt, umfangreicher ausfallen können.
Schwierig finde ich auch, dass ihr euch sehr schnell auf eine Fehlfunktion des Pulsoxys eingeschossen habt, die hier definitiv nicht vorlag.
Eine lageabhängige Dyspnoe hatte sie nicht, sondern schlichtweg eine Besserung der Symptome im Sitzen. Das ist nichts ungewöhnliches und erst recht kein Zeichen einer Herzinsuffizienz oder gar eines Lungenödems. Was sind denn überhaupt Zeichen einer Herzinsuffizienz die wir klinisch finden können?

Zur Auskultation sei gesagt, dass ich das prinzipiell übungstechnisch auch gutheiße, jedoch waren die beschriebenen Punkte so eher ungünstig. Wie LRF an anderer Stelle bereits sagte: Die Patientin sitzt doch bereits, warum nicht die posteriore Variante wählen? Die ist zumeist technisch einfacher. Vielleicht sogar aussagekräftiger?
Zum Sauerstoff: Schwierig. Ich persönlich hätte ihn aufgrund der Dyspnoe verabreicht, allerdings auch nicht hochdosiert. Letztendlich war er eh nicht vorhanden, also ... ?(
Die ASS-Gabe wurde hier von euch auch schon beinahe hinreichend angesprochen. Zwar ist die frühe Verabreichung von ASS definitiv günstig für die Prognose von ACS-Patienten (und im Übrigen empfiehlt die AHA die frühe ASS-Gabe, entweder "by dispatch" oder "by BLS", schon seit geraumer Zeit), ABER:
1. Liegen wir mit "ACS" bei dieser Patientin wirklich richtig?
2. Ist ASS bei dieser Vormedikation wirklich notwendig?
3. Habt ihr zum Zeitpunkt, an dem ihr ASS verabreichen wolltet,die notwendigen Voraussetzungen noch nicht erfüllt.
Welche Fragen wären denn vor ASS-Gabe noch relevant gewesen?

Abgesehen davon hat die nichtverordnete Medikamentengabe im SSD nichts, also wirklich NICHTS zu suchen. Ich wage zu Bezweifeln, dass der gemeine SanHelfer oder gar Ersthelfer in der Lage ist, die Indikation für eine ASS-Gabe korrekt zu stellen. Doch dazu später mehr.

Ich fand es gut, dass ihr die Patientin sitzen gelassen habt, sie war ja jetzt wirklich nicht hochakut. Auch war euer Umgang mit der Patientin sowie das generelle fachliche Niveau eurer Versorgung meiner Meinung nach bemerkenswert.

Die Patientin litt in der Tat schlichtweg an einer rhythmologischen Problematik, ich traf sie erst im Krankenhaus, wo sie sich mit einer Tachykardie durch schnelle AV-Überleitung bei VHF vorstellte.

Fazit:
Adäquate Versorgung, zukünftig etwas mehr Anamnese und Struktur. Sonst gefiel mir das schon ziemlich gut.

PS: Das sprachliche Niveau war in der Tat beeindruckend.
06.11.2015, 17:44
Tachykardie durch schnelle AV-Überleitung bei VHF...?

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