SHT nach Sturz?

Hier könnt ihr erlebte Einsätze schildern und sie können von uns gemeinsam besprochen werden.

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28.01.2015, 21:29
Hallo zusammen,

Ich bins schon wieder mit einigen Fragen zu einem aktuellen Fall :)

Und zwar ereignete sich der Vorfall beim Handball spielen in der Sporthalle, die etwa 700 Meter von unserer Schule entfernt ist. Jedenfalls kamen zwei Spieler zu Fall, wobei der Verursacher des Sturzes das Knie des anderen während des Fallens gegen die Stirn bekam und so recht unsanft mit dem Hinterkopf aufkam.

Nach dem Aufprall war er etwa 5 Sekunden bewusstlos und anschließend stark benommen, was sich aber schnell besserte. Auf die Frage, ob ihm schlecht oder schwindelig sei, oder ob er Kopfschmerzen habe, antwortet er mit "Nein". Soweit ich das sehen konnte, waren die Pupillen auch isokor, wobei sich eine Blutung vermutlich erst nach einiger Zeit in den Pupillen wiederspiegelt, oder?
Als er sich aufgerafft hatte und sich dann auf die Bank setzte, begann er unaufhörlich diverse Mitschüler zu fragen, "was denn passiert sei". Doch als er es erklärt bekam, schien er es sofort wieder zu vergessen, ging zum nächsten und fragte den was passiert ist.

Ich hatte das zuerst so gedeutet, dass es ihm unangenehm war, dass sich der andere (dessen Knie er im Gesicht hatte) ziemlich am Knie verletzt hatte und er versuchte das so zu vertuschen. Etwas suspekt war mir das aber schon.

Auf dem Weg zurück zur Schule, war er aber anscheinend immer noch mit fragen beschäftigt und konnte sich, so wie es mir erzählt wurde, nicht an sein Geburtsdatum oder seinen Nachnamen erinnern. Außerdem behauptete er - und jetzt wirds komisch- dass er sich an die ganze vergangene Woche nicht mehr erinnern könne. Gelaufen ist er aber wie ne Eins....

Die Sekretärinnen, denen die Sache wohl doch nicht so geheuer war, haben dann, in der Schule angekommen, nen RTW gerufen, der ohne (!) Sondersignal nach ca. 20 min. eintraf und den Pat. mit ins Krankenhaus nahm. Dort musste er dann über Nacht bleiben. Er behauptete später, dass er sich an absolut nichts mehr erinnern könne. Also auch die Fahrt mit dem RTW, die ca. 70 min. nach dem Unfall stattfand, sei ihm nicht mehr erinnerlich.

Meine Frage wäre jetzt, ob es tatsächlich möglich ist, dass die retrograde- bzw. die anterograde Amnesie so weit zurück reichen? Wikipedia, DocCheck und RH/RS sind sich da eigentlich einig, dass das bei einem SHT Grad 1 nicht möglich ist. Oder was sagt euch da die Erfahrung?

Und ob ich als Schulsani da gleich den RTW hätte rufen müssen? Vorallem, was wäre da die Indikation? Dass einer auf die Birne fällt und danach ein bisschen benommen ist, passiert ja recht häufig, da kann man ja nicht jedes Mal nen RTW rufen.
Außerdem halte ich persönlich den RTW für absolut überzogen. Der war ja weder in Lebensgefahr, noch hatte er akute Schmerzen oder hätte eine spezielle Immobilisation benötigt? Hätte es nicht auch einfach gereicht ihn durch die Mutter abholen und von der ins KH bringen zu lassen?

Hätte ich das ernster nehmen müssen und noch in der Sporthalle den RTW rufen müssen? Habe ich ihn durch die Annahme, dass er das nur macht, weil ihm die Situation peinlich war in Gefahr gebracht?

Vielen Dank schon im Voraus für eure Antworten!

LG Simon
28.01.2015, 22:20
Splash hat geschrieben:Nach dem Aufprall war er etwa 5 Sekunden bewusstlos und anschließend stark benommen, was sich aber schnell besserte. Auf die Frage, ob ihm schlecht oder schwindelig sei, oder ob er Kopfschmerzen habe, antwortet er mit "Nein". [...]
Als er sich aufgerafft hatte und sich dann auf die Bank setzte, begann er unaufhörlich diverse Mitschüler zu fragen, "was denn passiert sei". Doch als er es erklärt bekam, schien er es sofort wieder zu vergessen, ging zum nächsten und fragte den was passiert ist.[...]

Auf dem Weg zurück zur Schule, war er aber anscheinend immer noch mit fragen beschäftigt und konnte sich, so wie es mir erzählt wurde, nicht an sein Geburtsdatum oder seinen Nachnamen erinnern. Außerdem behauptete er - und jetzt wirds komisch- dass er sich an die ganze vergangene Woche nicht mehr erinnern könne. Gelaufen ist er aber wie ne Eins....
[...]
Also auch die Fahrt mit dem RTW, die ca. 70 min. nach dem Unfall stattfand, sei ihm nicht mehr erinnerlich.


Das deutet für mich auf ein SHT Grad 1 hin, wie du schon richtig erkannt hast. Die präklinische Gradeinschätzung eines SHTs erfolgt ja primär mit Hilfe der Dauer der Bewusstlosigkeit. Daran kannst du aber nicht festmachen, wie sehr das Erinnerungsvermögen davon betroffen ist. In der Medizin gibt es nunmal nicht die "Normerkrankung", da gibt es ettliche Variationen.

Bei uns fahren RTWs zu Schulunfällen grundsätzlich mit Signal, vermutlich weil eben Kinder betroffen sind (oder weil die Leitstelle gerne Fahrzeuge mit Sonderrechten durch die Stadt schickt ;) )

Eine Comotio, die aus einem Schulunfall resultiert und solche neurologischen Ausfälle zur Folge hat, ist meiner Meinung nach eine RTW Indikation. Ich persönlich denke, dass man gerade bei neurologischen Erkrankungen lieber so zeitnah wie möglich eine Notaufnahme aufsuchen sollte (natürlich nicht, wenn man sich nur n bissl die Birne angehaun hat, aber das dürfte ja wohl klar sein ;) ).

Also direkt geschadet hast du ihm damit sicher nicht...
29.01.2015, 01:30
Prinzipiell ist es sicher nicht nötig, zu jedem (harmlosen) Schulunfall mit Signal zu prügeln. Das hängt sehr vom Einsatzstichwort und der voraussichtlichen Eintreffzeit ab.

In dem beschrieben Fall sehe ich sowohl in der Turnhalle wie auch im Sekretariat eine klare Indikation für eine stationäre Aufnahme ("über-Nacht-bleiben"), und der Weg dorthin darf ruhig mit dem RTW zurückgelegt werden. Je nachdem wie man sich auf die Birne legt kann man sich schon mal ordentlich die Festplatte durchschütteln.

Neben einer fraglichen Amnesie bez. des Unfallhergangs ( die er vielleicht aus dem Grund des "Vertuschens" vorspielt), sehe ich sowohl in der retro- und antegraden Amnesie, wie auch der kurzen Bewusstlosigkeit und dem neurologischen Defizit (Unsicher zur eigenen Person, etc.) Punkte, die auf ein medizinisches Problem hindeuten.

Ich hätte ihn bei einer GCS von 14-15 genauer befragt, grob neurologisch untersucht, die Rübe inspiziert und ein Eimerchen parat gehalten. Weiterhin wie angedeutet mit dem RTW in die Klinik.

Eine Pupillendifferenz (oder Bewusstseinstrübung) kann sich nach einem Trauma relativ rasch zeigen, aber mitunter auch auch sehr lange auf sich warten lassen. Zudem geht eine neurologische Schädigung, aufgrund derer es zu einer Pupillendifferenz kommt, in aller Regel mit einer schweren Beeinträchtigung des Bewusstseins einher.
30.01.2015, 15:40
Hallo,

Vielen Dank für eure Antworten!
Sehe ich das richtig, dass man aufgrund der kurzen Bewusstlosigkeit von einer Gehirnerschütterung ausgehen kann und eine Gehirnerschütterung immer mit RTW in die Klinik sollte?
Wieso denn mit dem RTW? Was sind da die Vorteile? Ist es nicht extrem unwahrscheinlich, dass man wegen "nur" einem SHT 1 auf dem Transport Komplikationen entwickelt?

Außerdem ist eine solche Amnesie, wie er angeblich hatte, doch nicht möglich, oder?

Ich ziehe für mich das Fazit, dass ich in Zukunft den Aussagen der Patienten erstmal unkritisch glaube und danach auch handle. Ich denke, dass war in diesem Fall das Hauptproblem gewesen, dass ich da meinen (falschen) Eindruck miteinfließen lassen habe.

Habt ihr vielleicht ne Seite, auf der man sich zu dem Thema gut einlesen kann? Das hat jetzt doch mein Interesse geweckt... Unf was auf Wikipedia oder DocCheck steht ist zumindest von der Pathophysiologie her relativ dürftig.
30.01.2015, 18:44
Hallo zusammen,
meiner Meinung nach sollte ein SHT1 in der Schule immer einem Arzt vgestellt werden, ob mit oder ohne RTW ist situationsabhängig. Da in der von dir beschriebenen Lage der Patient bewusstlos war würde ich auf jeden Fall die Rettung kommen lassen. In Fällen, die "harmloser" sind würde ich auch evtl. die Eltern das Kind abholen lassen und dann zum Arzt schicken.

Jetzt muss ich noch eine Wissenslücke stopfen lassen:
Gab es nicht bei SHT ein symptomfreies Intervall (oder so ähnlich), in dem keine Symptome auftreten, es danach aber u.U. zu einem verstärktem Auftreten der Beschwerden kommen kann?

LG
Ennepe
31.01.2015, 00:07
Ein "freies Intervall" wird beispielsweise bei einer epiduralen Blutung beschrieben...

@Splash: Ich habe doch einige Punkte erwähnt, die für eine Commotio sprechen: kurze Bewusstlosigkeit, Amnesie, nicht orientiert, wohl Schmerz und ggf. Übelkeit (==> subjektive Symptome),...

Weiterhin kann es durchaus sein, dass er (zumindest für einen gewissen Zeitraum) eine derartige Amnesie aufweist - warum auch nicht?


Und warum ich ihn mit dem RTW transportieren würde:

1. Genau dafür ist der da!
2. Wahrscheinlich keine schwerwiegendere Verletzung, aber: Übelkeit / Erbrechen, Eintrüben, Krampfanfall,... Das lässt sich erst mal nicht ausschließen und auch recht schlecht auf dem Fahrrad-Gepäckträger behandeln.
3. Schulunfall, der über Bagatellverletzung hinausgeht, wenig Erfahrung bei der Einschätzung der Verletzungsschwere und keine Möglichkeit, die Entwicklung in der nächsten Zeit abzuschätzen.



Abschließend: Man muss dem Patienten ja nicht alles glauben, aber vor allem bei fehlendem Wissen bez. eines Krankheitsbildes potentielle Symptome nicht einfach abtun. Das "Herabstufen" neurologischer Symptome bei einem SHT sollte dem Erfahrenen vorbehalten sein.
01.02.2015, 23:02
Vielen Dank für eure Antworten! Da habe ich einiges gelernt und werde das beim nächsten Kopfsturz umsetzen :)

Meine Frage nach der Pathophysiologie der Amnesie ist als einzige noch nicht beantwortet worden.
Klar, wenn man auf die Birne fliegt, kann man schonmal ne Amnesie aufweisen. Aber warum? Was genau passiert da im Hirn? Warum vergisst man einige Minuten davor? Und vorallem weshalb vergisst man Dinge danach?

Das hat doch meine Neugierde geweckt und ich würde mich sehr freuen wenn sich jemand die Zeit nimmt mir das zu erklären :)
02.02.2015, 13:59
oh - ich bin mir nicht mal sicher, ob das überhaupt sicher erforscht ist. Die Amnesie kennt man in der Medizin ja nicht nur im Rahmen eines SHT, sondern auch bei vielen anderen Erkrankungen, teilweise kann diese auch "spontan" auftreten (transiente globale Amnesie).

Ich würde spontan sagen, dass es (beim SHT) durch Gewalteinwirkung auf das Gehirn zu einer "Abschottungsreaktion" kommt, die hauptsächlich im Bereich des Thalamus / limbischen System / Papez-Kreis ihre Ursache hat und dort eine "Down-Regulation" verursacht. Da dort aber ja fast "jeder-mit-jedem" interagiert müsste ich mir das im Detail nochmal angucken.

Vielleicht hat ja jemand Lust und liest sich kurz in das an sich ja sehr einfach durchschaubare System der Neurophysiologie ein:)
03.02.2015, 20:38
Ich kenne eher den psychologischen Ansatz, dass das Gehirn damit versucht, die vor schlimmen Erinnerungen zu bewahren. Ob da tatsächlich was dran ist, weiß ich leider nicht :)
05.02.2015, 12:42
Schau mal hier:
http://flexikon.doccheck.com/de/Retrograde_Amnesie

Da steht, dass das alles noch ein Forschungsgegenstand ist ;)


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