der Schein trügt [SanH | SanH + EH]

Notfallszenarien für Ersthelfer bis Rettungsdienstmitarbeiter.

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23.10.2015, 14:58
Ich bin generell mit den Maßnahmen und der Übergabe zufrieden (sry ich dachte der Rettungsdienst wäre schon da) Wir haben eine Anamnese erhoben, Monitoring und der Notruf war denke ich auch gerechtfertigt (Den RR habe ich erwähnt, weil das laut Lehrbuch streng gesehen einer Hypotonie wäre. Wäre ein Druckverband nötig gewesen? Du hast geschrieben dass der Verband leicht blutet aber noch nicht durchblutet, deswegen habe ich angenommen ein normaler reicht aus. Ansonsten würde mir auch nichts mehr einfallen.
An Andreas: Danke für das Fallbeispiel! Die Moderarion hat ziemlich gut funktioniert:)
23.10.2015, 19:23
Ein interessantes Fallbeispiel, dass man auch als Unbeteiligter mal lesen kann. Gut fand ich, dass sehr ausführlich kommuniziert wurde und das auch "für alle" lesbar ist, ebenso hat sich Andreas Mühe gegeben!

An sich scheint das Fallbeispiel zunächst banal, da die Symptome relativ rasch einen potentiell akuten Schlaganfall vermuten ließen. Allerdings besteht viel Raum für mögliche Diskussionen:

1: Es scheint, als hätte die Dame eine stark blutende Wunde, die an sich harmlos ist und adäquat behandelt wurde. Vielleicht kann man vereinfachend sagen, dass "pulsierend blutende Wunden" an Extremitäten eines Druckverbands bedürfen, die meisten Wunden allerdings durch einen normalen Verband adäquat zu versorgen sind. So lange der Verband nicht durchblutet und wieder "Blut fließt" - alles okay. Die Einnahme von ASS stellt hier kein allzu großes Problem dar, da man an die Blutungsquelle problemos rankommt und ggf. die Wunde fester komprimieren könnte. Neben dem sauberen Verband: Hochlagern und DMS-Kontrolle...

2. Weiterhin scheint die Patientin klassische Symptome eines Schlaganfalls zu zeigen. Diese waren in ähnlicher Form in letzter Zeit auch aufgetreten und dann wieder verschwunden, was nicht unüblich ist. Sozusagen eine Art Warnsignal als "Ruhe vor dem Sturm". Solche Patienten erfordern einen Notruf und die Entsendung eines RTW, je nach Entfernung durchaus mit Sonderrechten. Vitalparameter und die Einnahmme von ASS sind gute Zusatzinformationen.

3. Spannend sind die Vitalparameter. Für eine "akut" verletzte Patientin hat sie einen auffallend langsamen Puls und niedrigen Blutdruck. Weiterhin würde man bei der vorliegenden neurologischen Symptomatik (Schlaganfall?) einen eher erhöhten Blutdruck erwarten. Die Messung des BZ wäre schön, sofern ein Gerät zur Verfügung steht.

An sich bleibt eine "banale" Handverletzung" mit einer fraglich akuten neurologischen Symptomatik, die einer raschen Abklärung bedarf. Neben einem Schlaganfall bleiben sicher einige spannende Differentialdiagnosen, die aber durch den SSD oder Sanitätsdienst nicht abgeklärt werden müssen und können, also: Ab in die nächste geeignete Neurologie; vielleicht sogar in einem größeren Haus, wo man auch durch die (Hand)-Chirurgen die Verletzung versorgen kann. Wenn es sich lediglich um einen Schnitt ohne größere Verletzung von wichtigen Strukturen handelt sollte das allerdings auch jede normale chirurgische Ambulanz behandeln können.
24.10.2015, 09:55
Erstmal möchte ich mich bei den beiden Teilnehmerinnen bedanken, die, wie ich finde, dass Fallbeispiel im Großen und Ganzen sehr gut gelöst haben. Selbstverständlich bedanke ich mich auch bei Leuchtreklamefahrer für das Feedback und vor allem für die Erklärung, so muss ich weniger schreiben. ^^

Ja, der Schein trügt, das sagt uns auch der Titel des Threads. Frau Hildesheim hat augenscheinlich nur eine Bagatellverletzung, die es trotzdem in sich hat. Aber beim genaueren Hinsehen fällt auf, dass da wohl mehr dahinter steckt. Daher war es gut, dass bei der Anamnese direkt der Unfallhergang und die Umstände beachtet wurden.

Aber erst einmal fand ich gut, dass ihr beide direkt an den Eigenschutz gedacht habt und Einmalhandschuhe angezogen habt.
Desweiteren hat mir die Ansprache der Patient über den gesamten Zeitraum gut gefallen. Ebenfalls wurde die Verletzung zeitnah mit einem eigneten Verbandmittel versorgt.
Gut war auch die frühzeitige Verdachtsdiagnose Schlaganfall, die dann leider im weiteren Verlauf weniger beachtet worden ist, aber zum Glück später wieder aufgegriffen worden ist. Frau Hildesheim zeigte diesbezüglich folgende Symptome:
- starke Kopfschmerzen
- Sehstörungen auf dem rechten Auge
- niedriger Blutdruck (100/50 mmHg)
- bradykarder Puls (45 BpM)
- einseitiges (rechts) Taubheitsgefühl in Arm und Bein
- vorzeitiges Auftreten von Sehstörungen, Kopfschmerzen und Lähmungen, außerdem verstärken der Symptome zum heutigen Zeitpunkt
Außerdem stehen folgende Risikofaktoren im Raum:
- leichtes Übergewicht
- Alter (~ 60 Jahre)

Der Verdacht auf Schlaganfall oder zumindest einer akuten neurologischen Erkrankung hätte beim Notruf, der ein bisschen zögerlich kam, ruhig direkt genannt werden können, dann wäre vermutlich auch direkt ein Notarzt mit alarmiert worden, wobei dies natürlich Sache des Disponenten ist. Das, was Johanna beim Notruf gesagt hat war meiner Meinung zu viel, die "Standardinformation" mal unbeachtet, da hätte ich mir eine Konzentration auf das wirklich Wichtige gewünscht. Vitalparameter gehören meiner Meinung nach nicht in den Notruf.
Ich habe die Erfahrung gemacht, dass es viel besser ist nur die markanten Informationen bezüglich der Verletzung/Erkrankung zu nennen, natürlich neben den "Standardinformation". In dem Fall wären das:
- Verdacht auf Schlaganfall oder neurologische Erkrankung
- Schnittverletzung an der Hand

Einziger Kritikpunkt bei der Übergabe war meiner Meinung, dass ihr euch nicht dem Rettungsdienst gegenüber als Schulsanitätsdienst zu erkennen gegeben habt. Ihr habt ja durchaus mehr auf dem Kasten, als der durchschnittliche Ersthelfer, also sagt denen das auch.

Minuspunkte gibt es allerdings bei der Lagerung der Patientin, weil diese von euch weniger beachtet worden ist. Frau Hildesheim meinte zwar, dass ihr Arzt einen normalen Blutdruck festgestellt hat, aber einen genauen Wert wusste sie nicht, daher hättet ihr davon ausgehen müssen, dass der hier gemessene Blutdruck  (100/50 mmHg) zu niedrig ist. Demnach müsste die Patientin flachgelagert werden, Frau Hildesheim saß hingegen auf der Liege.

Frau Hildesheim hat, um das Ganze nun aufzulösen, einen Schlaganfall, der sich schon vorher durch kleine Anfälle bemerkbar gemacht hat.

Wie schon geschrieben, gefiel mir die Bearbeitung des Fallbeispiels sehr gut, wobei die vorliegende Erkrankung nur bedingt erkannt wurde, aber trotz anfänglicher Unsicherheiten trotzdem der Notruf abgesetzt worden ist.

Eine weitere Diskussion ist meinerseits durchaus erwünscht!

Ich bedanke mich bei allen Beteiligten!

LG Andreas
24.10.2015, 15:25
andreas hat geschrieben:Der Verdacht auf Schlaganfall oder zumindest einer akuten neurologischen Erkrankung hätte beim Notruf, der ein bisschen zögerlich kam, ruhig direkt genannt werden können, dann wäre vermutlich auch direkt ein Notarzt mit alarmiert worden, wobei dies natürlich Sache des Disponenten ist.


Aber nur aus einem einzigen Grund. Und der wäre?
24.10.2015, 19:29
Don Spekulatius hat geschrieben:
andreas hat geschrieben:Der Verdacht auf Schlaganfall oder zumindest einer akuten neurologischen Erkrankung hätte beim Notruf, der ein bisschen zögerlich kam, ruhig direkt genannt werden können, dann wäre vermutlich auch direkt ein Notarzt mit alarmiert worden, wobei dies natürlich Sache des Disponenten ist.


Aber nur aus einem einzigen Grund. Und der wäre?

Ich bin mir grade nicht ganz sicher, was du meinst.
24.10.2015, 19:41
Na wofür braucht man beim Schlaganfall einen Notarzt?
24.10.2015, 21:51
@Don: Ein Schlaganfall ist eine Notarztindikation. Bei uns wird der NA grundsätzlich mitgeschickt, beziehungsweise nachgefordert, um die Symptome korrekt einzuordnen und damit die richtige Wahl der Zielklinik zu garantieren. Damit wird ein rascher Transport in ein geeignetes Zentrum zur optimalen Therapie sichergestellt.

 LG Andreas 
24.10.2015, 22:01
Schlechtes Konzept. Schlaganfall ist eine Scoop and run Diagnose. Die Nachforderung eines NA verschwendet nur Zeit. Einen NA braucht man nur bei deutlicher Vigilanzminderung oder - wie hier - bei Hypotonie. Der Blutdruck wäre beim Nicht-Hypertoniker auf 160-180 mmHg syst anzuheben.
24.10.2015, 23:03
Da habe ich wohl den Fall bei unklarem Meldebild, also wie im Fallbeispiel geschildert, vergessen. Die Zeit steht bei Lyse-Patienten natürlich im Vordergrund.
Dass der NA nicht nachgefordert wird, ist mir allerdings erst wieder klar geworden, als ich meine Aufzeichnungen durchgeschaut habe.
Trotzdem soll grundsätzlich bei Verdacht auf Schlaganfall RTW und NA alarmiert werden.
Aber gut, dass man nochmal drüber gesprochen hat.
25.10.2015, 13:13
andreas hat geschrieben:Trotzdem soll grundsätzlich bei Verdacht auf Schlaganfall RTW und NA alarmiert werden.


Nein. Bei Verdacht auf Schlaganfall sollte ein RTW alarmiert werden. Der NA wird nur bei Hypotonie oder bei erheblicher Vigilanzminderung benötigt. Denk immer daran: NEFs oder RTHs sind endliche Ressourcen. Wenn der NA beim Schlaganfall alarmiert wird, um das Protokoll auszufüllen (mehr macht er ohnehin nicht), dann kann er vielleicht am anderen Ende des Kreises den 18 jährigen Motorradfahrer nicht reanimieren.

Aber letztlich ist das ja eine Entscheidung der Leitstelle. Bei uns hättest Du für die hier geschilderte Patientin keinen Notarzt bekommen.

Was war eigentlich die pathophysiologische Überlegung, warum sie so hypoton sein soll?
25.10.2015, 16:37
Im rheinland-pfälzischen Notartzindikationskatalog ist ein Schlaganfall, bei dem sonst nichts erkennbar ist, als explizite Ausnahme angeben, da wir hier keinen Notarzt brauchen. Ein Schlaganfall wird gemäß der Handlungsanweisungen für nicht-ärztliches Personal (SOP) ohne Notarzt abgearbeitet, bekommt einen peripher-venösen Zugang und wird in eine geeignete Zielklinik verbracht.

Ich finde die Vitalwerte, wie schon von anderen geschrieben, eher ungewöhnlich für diesen Fall.

Im Forum haben wir mal eine schöne Sammlung von möglichen - und aussergewöhnlichen - Differentialdiagnosen erstellt. Vielleicht hätte man ja auch etwas ungewöhnlicheres als Lösungsdiagnose nehmen können ;)
"Wir essen jetzt Opa!"
Satzzeichen retten Leben!
25.10.2015, 17:01
@Don: Ich dachte da an eine Subarachnoidal-Blutung. Also, dass im Hirn eine Arterie geplatzt ist. Da durch die Einblutung nicht genug Blut zurück zum Herzen fließt, entsteht ein Ungleichgewicht zwischen dem Blutvolumen und dem Gefäßvolumen. Also so würde ich dann die arterielle Hypotonie erklären.

LG Andreas
25.10.2015, 19:03
Ähmm... nein. Eine Subarachnoidalblutung, die zu einem Volumenmangel führt bei einem wachen Patienten kannst Du mal ruhig vergessen.
25.10.2015, 23:23
Gut. Dann erklär mir doch bitte, wieso ich das vergessen kann. Gerne auch per PN.

LG Andreas
26.10.2015, 09:36
Bei einer SAB kommt es in aller Regel zu einer Blutung, bei der nicht mehr als 100-150ml frei werden- ansonsten ist der Patient in aller Regel recht fix tot, da der rasche Anstieg des intracraniellen Drucks nicht kompensiert werden kann.Dies beeinflusst weder (primär!) die Hämodynamik aufgrund des Volumenverlusts, noch aufgrund einer Aufstauung der zuführenden (kleinen) Arterie. Diesbezüglich hatte ich ja bereits erwähnt, dass die genannten Vitalparameter sehr schwer erklärbar sind. Nahezu alle anderen Konstellation wären diesbezüglich dankbarer gewesen;) Außerdem sind Hypotonie und Bradykardie keine typischen Zeichen eines Schlaganfalls. Bei der akuten neurologischen Raumforderung kann es zwar im Rahmen des sogenannten Cushing-Reflex zur Bradykardie kommen, allerdings würde diese mit einer entsprechenden Hypertonie und einer Bewusstlosigkeit des Patienten einhergehen.

Auch hier gilt: keine Fallbeispiele zu Themen, zu denen man die grundlegende Pathophysiologie nicht kennt.

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