Sauerstoffgabe

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10.05.2017, 17:22
Hallo,
ich nerve mal wieder mit einer Frage :D ;)
Mir sind zwei Fragen zum Thema Sauerstoffgabe eingefallen:

1. In der normalen Raumluft sind ja 21% Sauerstoff und in der Ausatemluft 17%. Also verbraucht der Körper ja logischerweise 4% von dem Sauerstoff. Was bringt es denn nun überhaupt, den Sauerstoffgehalt der Einatemluft zu erhöhen (mit der Reservoirmaske ja sogar auf 100%), wenn eh nur ein Bruchteil davon verbraucht wird? Vielleicht habe ich auch einen Denkfehler :)
Ich hoffe, dass mich jemand aufklären kann.

2. Gibt es eine Faustregel, wieviel Sauerstoff man geben sollte? Bei einigen Krankheitsbildern gibt es ja sehr genaue Vorgaben in den Leitlinien (z.B. beim ACS -> soviel, bis Sättigung über 94%), aber wieviel sollte man beispielsweise bei einer Atemnot unklarer Ursache geben? Kann man den Flow auch irgendwie an die Sättigung anpassen? Und noch etwas: Ich habe gehört, dass man auch oft bei internistischen Notfällen ohne Atemnot Sauerstoff gibt (z.B. einer Hypoglykämie). Bringt das etwas? Und wenn ja, wieviel sollte man dann geben?


Das war jetzt ziemlich viel auf einmal, aber ich hoffe ein nettes Forenmitglied erbarmt sich (bis jetzt habe ich immer sehr freundliche und kompetente Antworten erhalten :))

Ben
11.05.2017, 20:15
Hallo Ben,

du stellst eine Frage, deren Beantwortung, falls man sie in allen Aspekten beantworten will, sicherlich Tage füllen kann.

ganz allgemein:

Viele Notfälle gehen mit einem Sauerstoffmangel einher, dieses muss nicht den Gesamtorganismus betreffen, sondern kann auch nur um einen kleinen Bereich des Körpers gehen - daher ist es nicht umbedingt hilfreich, hier nur den Aspekt der Sauerstoffsättigung und der Differenz zwischen Ein- und Ausatemluft zu beleuchten, sondern in kleineren Abschnitten zu denken.
Historisch war bei nahezu allen Erkrankungen, die mit einem lokalen Sauerstoffmangel einhergehen (und hierfür gibt es reichlich Beispiele - Herzinfarkt, Schlaganfall...) die Sauerstoffgabe etabliert. Noch vor 10 Jahren hat jeder Herzinfarktpatient Sauerstoff bekommen - in der Hoffnung das Randgebiet des Infarktes besonders gut zu versorgen und so die Größe des Infarktareales klein zu halten. Bessere Untersuchungsmethoden zeigten mittlerweile aber, dass diese eher theoretische Überlegung eher schadet als nützt, so dass mittlerweile auch nur die Herzinfarktpatienten unter bestimmten Bedingungen (z.B. erniedrigte Sättigung) Sauerstoff bekommen. Bei der Reanimation ist man mittlerweile auch so weit, nach Wiederkehr des Kreislaufes das Sauerstoffangebot bedarfsadaptiert zu steuern, statt wie früher mit reinem Sauerstoff zu beatmen. Tierstudien zeigen aktuell auch, dass auch während der Reanimation selbst die Sauerstoffgabe kontraproduktiv zu sein scheint, hier ist aber noch einiges an Forschung nötig, bis sich das in den Leitlinien finden wird - daher gilt aktuell noch höchstmöglicher Sauerstoffanteil während der Reanimation, Danach nach Sättigung weiter.

In Notfallsituationen gibt es aber weiterhin viele Gründe, Sauerstoff als Medikament zu nutzen - allerdings vielleicht nicht mehr so unreflektiert wie vor Jahren, es hat auch Nebenwirkungen, wie jedes andere Medikament auch.

zu deiner Frage etwas konkreter:
aber wieviel sollte man beispielsweise bei einer Atemnot unklarer Ursache geben? Kann man den Flow auch irgendwie an die Sättigung anpassen? Und noch etwas: Ich habe gehört, dass man auch oft bei internistischen Notfällen ohne Atemnot Sauerstoff gibt (z.B. einer Hypoglykämie). Bringt das etwas? Und wenn ja, wieviel sollte man dann geben?

Bei einer Hypoglykämie gebe ich beispielsweise kein Sauerstoff, da es an dem Problem nichts ändert, allerdings ist Atemnot nicht der einzige Träger, der zu einer Sauerstoffgabe führt.
Prinzipiell hilft die Sättigung schon wohl, um zum einen einen Mangel zu erkennen, zum anderen aber auch um eine Erfolgskontrolle meiner Maßnahme zu sehen. Eine Faustformel - "Sättigung X --> Flow Y" - gibt es nicht. Allerdings hat man ja meist eine Vorstellung, wohin man den Patienten bringen möchte, schaut nach der Ursache der schlechten Sättigung und behandelt nach Möglichkeit die Ursache, verabreicht aber meist auch Sauerstoff. Allerdings bringt eine reine Sauerstoffgabe wenig, wenn die Atemwege verlegt sind, die Atemfrequenz sehr niedrig oder sehr schnell ist, ein massives Lungenödem oder Lungenverletzungen ect. vorliegen - die Sauerstoffgabe ist in solchen Fällen nur ein Baustein in der Therapie.

In der normalen Raumluft sind ja 21% Sauerstoff und in der Ausatemluft 17%. Also verbraucht der Körper ja logischerweise 4% von dem Sauerstoff. Was bringt es denn nun überhaupt, den Sauerstoffgehalt der Einatemluft zu erhöhen (mit der Reservoirmaske ja sogar auf 100%), wenn eh nur ein Bruchteil davon verbraucht wird? Vielleicht habe ich auch einen Denkfehler

Hier kommen wir weit in die Atemphysiologie.
Ganz grob - mit den Prozentzahlen kommen wir nicht weiter, um alles zu erklären, sondern wir müssen mit Partialdrücken arbeiten.
Unsere Luft hat einen gewissen Luftdruck - etwa 750 mmHg (kann man an Barometern ablesen, ist vom Wetter, von der Höhe ect. abhängig) - Wie du schon sagtest, besteht die Luft nur zum Teil (21%) aus Sauerstoff, daher hat der Sauerstoff auch nur einen Anteil am Luftdruck (also etwa 20 % - 150 mmHg).
Die Luft mit dem Sauerstoffpartialdruck von 150 mmHg wird eingeatmet und gelangt zur Alveole - also dem Lungenbläschen, in dem der Gasaustausch stattfindet. Auf den Weg dorthin wird die Atemluft mit Wasserdampf angereichert, der Anteil von Kohlendioxid steigt an, so dass der Sauerstoffpartialdruck (SPD) dann letztendlich in der Alveole ca 100 mmHg beträgt. Optimalerweise gleicht sich der SPD in der Alveole durch Diffusion dem im Blut an, im Blut hat man dann auch einen SPD von 100 mmHg. Allerdings wird die große Masse des Sauerstoffes ja nicht frei im Blut transportiert (ein bisschen jedoch schon - man spricht von "physikalisch gelöst"), sondern an Hämoglobin gebunden.
Hier kommt die Sauerstoffbindungskurve ins Spiel - diese gibt an, welcher SPD eine bestimmte Sättigung des Hämoglobins bewirkt. Bei gesunder Lunge reicht die Raumluft bei normalem Luftdruck aus, eine Sauerstoffsättigung von 96 - 99 % des Hämoglobins zu erhalten.

Bei einigen Erkrankungen oder Verletzungen ist dieses aber gestört.

Beispielsweise gibt es Lungenerkrankungen, bei denen einfach die Menge an funktionsfähigen Alveolen kleiner wird oder sie von der Belüftung abgeschnitten sind oder in Folge von Wassereinlagerungen verdickt sind. Ein Mehrangebot an Sauerstoff hilft hier aber, dass es zu einem besseren Übertritt ins Blut kommt.

Bei einem Mangel an Blut (somit auch Hämoglobin als Sauerstoffträger) bei einer Blutung kann durch ein großes Sauerstoffangebot und einem deutlich erhöhten SPD im Blut auch der Teil des physikalisch gelösten Sauerstoffs im Blut erhöht werden und so mehr in den Körper transportiert werden, ein gewisser Hämoglobinmangel kann so etwas kompensiert werden.

Situationen im Rettungsdienst sind oftmals dynamisch - die Gabe von Sauerstoff schafft eine gewisse Sicherheitsreserve, da einiges an Stickstoff der normalen Umgebungsluft in der Lunge durch Sauerstoff ersetzt werden, ein Atemstillstand (Verschlechterung oder aber medikamentös bedingt) kann so etwas länger toleriert werden, das Risiko für Schäden durch Sauerstoffmangel wird somit reduziert, falls es zu einer Verschlechterung oder zu unerwarteten Komplikationen kommt. Außerdem wird dieses Prinzip vor jeder Narkoseeinleitung gemacht, um mehr Zeit für die Beatmung zu haben ("Präoxygenierung").



Insgesamt also sehr komplexes Thema, viel zu viel für eine Forumsantwort - vielleicht ein bisschen so an Input mit der Möglichkeit, einige Begriffe noch nachzulesen. Fragen werden gerne weiter beantwortet.
11.05.2017, 20:39
Vielen Dank für die ausführliche Antwort :) Sie hat auf jeden Fall mein Interesse geweckt, ich werde mich ein bisschen in die Atemphysiologie einlesen. Ich melde mich, wenn Fragen auftauchen!
11.05.2017, 21:56
Da kam mir Markus zuvor - ich hatte offline schon ein bisschen was geschrieben, es sind sehr weitreichende Fragen. :-D

Nur so als Ergänzung:
Dem Körper wird mit der Sauerstoffgabe mehr Sauerstoff angeboten. Durch den höheren Anteil an Sauerstoff in der Lunge kann der Sauerstoff jedoch leichter durch die Membran diffundieren: Von viel (Lunge) zu wenig (Blut). Bei Störungen der Diffusion (z.B. Lungenödem) kann der Sauerstoff so besser durch die verdickte Membran als wenn man nur Raumluft hätte. Man möchte jedes Hämoglobinmolekül oxygeniert haben. Voraussetzung ist natürlich, dass der Sauerstoff überhaupt in der Lunge ankommt, also der Atemweg frei ist.

Der Frischgasflow lässt sich nicht so einfach an die Sättigung anpassen (also so nach dem Motto 95% = 10 l/min), da es sich bei der pulsoxymetrisch gemessenen Sättigung um das Verhältnis von oxygeniertem zu desoxygeniertem Hämoglobin im arteriellen Blut handelt. Man kann also peripher immer schön 100% angezeigt bekommen, hat aber in der Blutgasanalyse grausige Werte für den Sauerstoffpartialdruck - das kann man präklinisch jedoch so schlecht bestimmen, die wenigsten haben ein BGA Gerät. ;-)

Außerdem wird dieses Prinzip vor jeder Narkoseeinleitung gemacht, um mehr Zeit für die Beatmung zu haben ("Präoxygenierung").


Eher um mehr Zeit für die Etablierung eines (sicheren) Atemweges zu bekommen. ;-)
11.05.2017, 22:11
@Markus: Das mit der verhaltenen Sauerstoffgabe während der Reanimation klingt interessant! Hast Du da eine konkrete Studie zur Hand, um sich mal näher einzulesen?
12.05.2017, 10:27
Maxi hat geschrieben:@Markus: Das mit der verhaltenen Sauerstoffgabe während der Reanimation klingt interessant! Hast Du da eine konkrete Studie zur Hand, um sich mal näher einzulesen?


Solevåg AL et al. Myocardial perfusion and oxidative
stress after 21% vs. 100% oxygen ventilation
and uninterrupted chest compressions in severely
asphyxiated piglets. Resuscitation 2016; 106: 7–
13
12.05.2017, 10:31
Außerdem wird dieses Prinzip vor jeder Narkoseeinleitung gemacht, um mehr Zeit für die Beatmung zu haben ("Präoxygenierung").


Eher um mehr Zeit für die Etablierung eines (sicheren) Atemweges zu bekommen. ;-)[/quote]

Naja, letztendlich ist es ja egal, ob man eine Maskenbeatmung macht oder irgendein Device einführt - entscheidend ist ja die immer entstehende Atempause, die umso länger sein kann (entweder gewollt, bei irgendwelchen Aktionen, die eine Apnoe erfordern, oder halt ungewollt bei Schwierigkeiten z.B. bei Maskenbeatmung oder Atemwegssicherung)

Besser ware formuliert "um mehr zeit bis zur Beatmung zu haben"
12.05.2017, 13:30
Danke!
12.05.2017, 23:31
Markus hat geschrieben:Naja, letztendlich ist es ja egal, ob man eine Maskenbeatmung macht oder irgendein Device einführt - entscheidend ist ja die immer entstehende Atempause, die umso länger sein kann (entweder gewollt, bei irgendwelchen Aktionen, die eine Apnoe erfordern, oder halt ungewollt bei Schwierigkeiten z.B. bei Maskenbeatmung oder Atemwegssicherung)

Besser ware formuliert "um mehr zeit bis zur Beatmung zu haben"


Deshalb hatte ich "sicheren" ja auch in Klammern gesetzt. So wie du es unten nun verändert hast, ist es glaube ich besser verständlich.


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